Hände weg von der Literatur. Wer lesen kann, muss nicht ins Kino gehen – oder doch?

Ich gehe nicht in ein Konzert, um mir eine CD vorspielen zu lassen. Ich gehe nicht ins Theater, um eine Lesung zu hören. Ich gehe nicht in den Zoo, um einen Tierfilm zu sehen. Warum aber gehen so viele Menschen ins Kino, um eine Literaturverfilmung zu sehen, wenn sie doch ahnen, dass ihnen das Buch besser gefallen wird als der Film? – Eine Glosse über unsere verkehrte (Medien)Welt: Kein Kinderfilm ohne Jugendliteratur.

Es braucht schon einen Harry Potter oder Der Herr der Ringe mit ihren umwerfenden Schauwerten und bahnbrechenden Special Effects, damit Optik und Inszenierung von Filmen ihren Buchvorlagen zur Ehre gereichen. Dass immer ein Stück erzählerischer Komplexität verloren geht und Innenwelten der Figuren nicht so genau beleuchtet werden können wie auf Tausenden von Buchseiten, war in diesen Fällen wohl zu verschmerzen. Bei vielen anderen Literaturadaptionen ist aber die Enttäuschung vorprogrammiert. Zumindest im Film für erwachsene Zuschauer. Beim Kinderfilm sieht es ganz anders aus. Dort scheint die Kinowelt auf dem Kopf zu stehen, denn Kinderfilmproduktionen sind im Grunde nur dann erfolgreich, wenn sie auf gut eingeführten Marken und vor allem auf gängiger Jugendliteratur basieren!

Drehbuchautoren können was, wirklich!
Dabei können Drehbuchautoren doch auch was. Es müssen nicht immer gestandene Jugendliteraturspezialisten sein, die den Stoff liefern. Das hat der Film Wintertochter bewiesen, der mit dem Deutschen Filmpreis Lola bedacht wurde. Doch beinahe hätte ihn die Deutsche Filmakademie übersehen, die, wie alle anderen auch, in der Sparte Kinderfilm auf Literaturverfilmungen geeicht ist. Die sind beim Deutschen Filmpreis in der Kategorie Kinderfilm eine feste Bank. Gewinner der Lola waren Das Sams, Das fliegende Klassenzimmer und so weiter. Wenn Tom Sawyer im Angebot ist, dann muss man doch nicht weiter nach Nominierungen suchen, hat sich die Akademie im Jahr 2012 wohl gedacht. Die Produzenten von Wintertochter zogen eine Wild Card. Wie gut, dass das möglich ist, denn ihr Film wäre sonst durchs Raster gefallen.
Wie viele Generationen von Kästner-Verfilmungen soll es noch geben? Das fliegende Klassenzimmer in den 50ern, in den 70ern und in den 2000ern. Gäbe es ein Prequel zu Emil und die Detektive – würde das jemand merken? „Emil und die Detektive – Episode 1“. Ganz kritische Deutschlehrer würden vielleicht die Nase rümpfen. Aber die meisten Eltern würde es freuen. Endlich wieder ein Kästner im Kino. Das neue Highlight für den Kino-Sonntag mit der ganzen Familie.

Keine Experimente?
Eine Buchadaption ist eine sichere Bank. Die Filmproduzenten wissen genau: Die Zuschauer wollen es so. Wollen Kinder das wirklich? Ist es nicht eher so, dass die Eltern Jugendliteratur im Kinderkino sehen wollen? Dann ist der Überraschungs- und Überrumpelungseffekt nämlich nicht so groß. Seht her: Pünktchen und Anton – das ist Kindheit, wie wir sie schon in den 50ern und 70ern liebten. Freilich wurden die Rollenbilder in Elternbeziehungen in der 99ziger-Version auf emanzipiert getrimmt. So viel Modernisierung muss sein. Doch zum Thema Kinderfreundschaft und Solidarität fällt den Gestaltern der Neufassung nicht viel ein, das es nicht schon bei Kästner Jahrzehnte früher gegeben hätte. Keine Experimente! Wer hat das noch immer gesagt?
Eltern begleiten ihre Kinder nur zu gerne in Literaturverfilmungen. Kästner, Funke, Maar und Co – das sind verlässliche Marken. Da weiß man, was man bekommt. Da sind kulturelle und pädagogische Qualitäten garantiert. Ein Filmtitel, der noch nie auf Buchdeckeln gesehen wurde, das ist ein zu großes Risiko. Dahinter könnte sich ein Stoff verbergen, der Fragen aufwirft, für die Eltern keine vorgefertigten Antworten haben. Er könnte Bilder und Motive liefern, die nicht so leicht einzuordnen sind. Er könnte verstören oder beunruhigen. Er könnte das Kinoerlebnis zu einem überraschenden und aufregenden Abenteuer machen. Er könnte Kultur sein statt Entertainment. Geistige und emotionale Anregung statt pflegeleichter Unterhaltung, die nicht schmutzt und bei 37 Grad leicht wieder aus den grauen Zellen zu entfernen ist.

Behaglichkeitsgarantie
Kinderkino muss eine Behaglichkeitsgarantie liefern. Das wird von ihm erwartet. Es dürfen vom Filmbesuch keine Schwebestoffe zurückbleiben. Eindrücke, die zu lange nachwirken und in Hirn und Herz weiter bewegt werden wollen. Denn das wäre tendenziell beunruhigend. Das Bild der idyllischen Kindheit wird nirgends so gepflegt wie im Kinderkino. Die Frage ist: für wen und mit welchem Ziel? Eltern geben sich der Illusion hin, dass es in einer Welt des Missbrauchs in Heimen und Schulen, einer Welt der Unfalltoten und Nahrungsmittelskandale, einer Welt der Bildungsmiseren und Armutsrisiken, einer Welt der Suchtrisiken und des Kampfs der Kulturen noch Ressorts einer behüteten Kindheit gibt. Vermittelt einem Hände weg von Mississippi (nach Cornelia Funke) nicht das herrliche Gefühl, dass die Welt der Kinder noch in Ordnung ist? Auf dem Land und auf der Leinwand. Möchte man nicht selber an dieser idyllischen Welt teilhaben, die nur leicht lösbare Konflikte kennt.
Der einzige Böse ist ein Gauner Gansmann, der sich ein lukratives Geschäft unter den Nagel reißen will. Der Ur-Typ eines Ausbeuters, – eine Figur, die sich längst überlebt hat. Solche eindimensionalen Bilder von Gierhälsen sind ein Signum und eine Seuche des Kinderfilms. Ich sage nur: Die rote Zora. Ihr Vorteil: Wegen eines Gansmann oder eines Großhändlers Karaman muss man nicht zur FSK 16 greifen. Die tun nichts. Sie können nichts. Sie auszukontern ist ein Kinderspiel. Ergo FSK o. A. für Hände weg von Mississippi und FSK 6 für Die Rote Zora.

Wenn alles abgegrast ist
Selbst ein Tom Sawyer kann heute nicht mehr die Kraft entfalten, die er in seinem Entstehungskontext hatte. Der Rassismus in den USA in der Ära kurz nach der Sklavenhaltergesellschaft ist zu weit entfernt, auch wenn es heute noch sehr virulente Formen des Rassismus gibt. Die Abenteuerwelten eines in der deutschen Provinz inszenierten Tom Sawyer lassen wenig ahnen vom starken Strom des Mississippi und von den Fließbewegungen einer mächtigen Erzählung. Wo sind die Mark Twains von heute, die ohne Netz und doppelten Boden schreiben, die dorthin schauen, wo es gärt, die uns zeigen, wo der Schmerz sitzt und wie wir durch Kultur ein Stück Freiheit erlangen. Autoren, die sich trauen, wirklich schöpferisch zu sein, die auf heutige Realitäten schauen und sich nicht nur an Bewährtes anlehnen. Übrigens darf in den USA Huck Finn in den Schulbuchausgaben nicht mehr „Nigger“ sagen. Im Streben um PoliticalCorrectness werden Konflikte übertüncht und der Stoff polithistorisch verfälscht. So weit ist es gekommen. Der afroamerikanische Autor und Bürgerrechtler Ishmael Reed zieht dagegen zu Felde. Recht hat er.
„Hände weg von der Literatur“ sollte das Gebot der Kinderfilmproduzenten lauten. Ein Jahr Kinderkino ohne Literaturadaptionen. Das wäre mal ein interessantes Moratorium. Vielleicht kommt es von ganz allein, denn schon jetzt spürt man, dass den etablierten Autoren der Kinderliteratur die Puste für neue Kinoplots ausgeht. Es schlägt die Stunde der Drehbuchautoren, wenn der Hang zum Idyll in der Kollaboration von Kinderbüchern und Kinderfilmen zu penetrant wird.

Christian Exner, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kinder- und Jugendfilmzentrum in Deutschland, leitet das Bundesfestival Video und ist Redakteur des Internetmagazins Top-Videonews. Mag als Kinder- und Jugendfilmexperte seit eh und je besonders das Filmland Schweden und ist immer wieder begeistert von der großen Spannbreite japanischer Anime.

Christian Exner

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