Perspektivenwechsel – Ein Kommentar zur Bedeutung der Filmarbeit

Der Film führt uns nah heran an menschliche Zustände. Er bringt Hoffnungen und Träume zum Vorschein. Er erzählt von Konflikten und Ängsten. Und wir Zuschauer sind mit unseren Emotionen beteiligt, wenn wir mit unseren Identifikationsfiguren Dramatik erleben, wenn wir um deren Schicksal bangen und mit ihnen nach Glücksverheißungen suchen. Film konfrontiert uns mit Unbekanntem und neuen Blicken, er gibt Denkanstöße und weckt unsere Gefühle, verunsichert, erfreut und berührt uns im besten Fall zutiefst.

Aktuell bestimmen Bilder von Flüchtenden und Migranten die Nachrichtenmedien. Bilder von Mittelmeer-Havarien und vom beklemmenden Leben in Zeltstätten sind sehr allgegenwärtig. Eindrücke von akuter Not, vom Einrichten in Provisorien, von Kriegstraumata, von Menschenrechtsmiseren und von Rassismus schrecken auf. Die Eindrücke aus der Nachrichtenwelt liefern aber oft nur Momentaufnahmen und Fragmente. Filmische Erzählungen dagegen bilden weitaus komplexere Erfahrungszusammenhänge ab. Vor allem aber schaffen sie emotionale Zugänge und ordnen unsere Wahrnehmungen neu. Was bringt einen Menschen dazu, sein Herkunftsland zu verlassen und sich auf eine hochriskante, kostspielige Reise mit ungewissem Ausgang und Ziel zu begeben? Wie fühlt es sich an, irgendwo anzukommen und einen Zustand zu erleben, der von vielen weiteren Übergangsszenarien, von Ängsten und Frustrationen geprägt ist? Filme wie Mediterranea geben Menschen auf der Flucht ein Gesicht, einen Namen und ein Schicksal. Sie prägen sich uns ein. Wer einen solchen Film gesehen hat, der spürt die Gewissheit: Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Menschliche Dramen rücken näher und betreffen uns wirklich.

Und noch ein weiterer Aspekt scheint mir für die Bedeutung des Films in unserem thematischen Kontext relevant: Filmsprache ist universell. Die Bilder- und Symbolwelten des Films teilen sich allen über die Barrieren von Länder- und Kulturgrenzen hinweg mit. Wir lernen andere Menschen, Städte und Landschaften und Geschichten kennen. So erschließen sich fremde unbekannte Welten, und sie werden − auch dank der emotionalen Wirkkraft von Film − Teil unserer Weltsicht.

Und mehr noch: Filme können den Austausch zwischen Kulturen fördern, Einblicke in fremde Lebensweisen und Lebensgefühle geben, sie können wie eine Lupe psychosoziale Zustände fokussieren und sind damit prädestiniert für den Austausch und die Begegnung zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft. Sicher darf man sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Dialoge als integraler Teil der Erzählung wichtig bleiben. Doch bei etwas Aufgeschlossenheit für Untertitel öffnen sich große Bestände weltweiter Filmkunst. Filmprogramme, die Geflüchteten Einblicke in unsere Kinokultur und unsere Lebenswelten vermitteln, zeugen vom Engagement für Begegnung und Austausch per Filmkunst. Manche Kinder erleben so ihre ersten Leinwandmomente und manche Erwachsene können ihre alltäglichen Belastungen und ihre Nöte auch für angenehme Kinostunden hinter sich lassen. Kino mit Geflüchteten ist gleichwohl keine Einbahnstraße, das zeigt das Münchener Projekt „Kino Asyl“, das die Perspektive öffnet, indem es Filme aus Herkunftsländern ausgewählt von Menschen aus diesen Ländern präsentiert. Ein wunderbarer Ansatz für einen kulturellen Dialog und eine Bereicherung für das Kino hierzulande.

Dr. Eva Bürgermeister leitet das Deutsche Kinder- und Jugendfilmzentrum (KJF)

Dr. Eva Bürgermeister

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